Das Internet vergisst bekanntlich nichts. Blog-Einträge, Fotos und andere Informationen finden sich auch Jahre nach ihrer Veröffentlichung irgendwo in den Weiten des World Wide Web. Sind informationelle Selbstbestimmung, Datenschutz und Privatsphäre in Zeiten der Sozialen Netzwerke und des Web 2.0 überhaupt noch möglich?

„Vergeben und vergessen“ ist offensichtlich nicht das Leitmotiv im Internet, wie das Beispiel von Stacy Snyder zeigt. Die 25jährige wollte Lehrerin werden und studierte deshalb an Millersville University School of Education in Pennsylvania, allem Anschein nach mit großem Erfolg. Bis zu dem Tag, an dem sie sich auf einer Party fotografieren ließ.

Das Bild zeigte die Studentin mit einem Plastikbecher in der Hand und einem Piratenhut auf dem Kopf, auf dem zu lesen stand: „Betrunkener Pirat“. Snyder stellte das Foto auf ihre Profilseite bei MySpace, wo es ein Professor entdeckte – der das Foto überhaupt nicht amüsant fand.

Wenige Tage vor der Abschlussfeier wurde der jungen Dame das Lehrerdiplom verweigert. Ihr Verhalten sei „unprofessionell“ gewesen, weil sie damit Schüler indirekt zum Alkoholkonsum ermuntert habe. Die Studentin ging vor Gericht, weil sie im Vorgehen der Schule einen Verstoß gegen ihre im ersten Verfassungszusatz der Vereinigten Staaten garantierte Meinungsfreiheit eingeschränkt sah. Ein Bundesrichter wies ihre Klage aber ab.

Der Fall, der 2008 verhandelt wurde, wird lang und breit zitiert in dem Buch „Delete: The Virtue if Forgetting in the Digital Age“ von Viktor Mayer-Schönberger; und er ist tatsächlich ein extremes Beispiel dafür, wie sich unbedachtes Online-Verhalten plötzlich rächen kann.

Der Autor verknüpft die Schilderung mit allerlei zum Teil moralinsaurem Gerede über die Notwendigkeit, unsere Kinder besser zu beaufsichtigen bzw. ihnen rechtzeitig den verantwortungsvollen Umgang mit dem Internet beizubringen. Als ob sich die Cyber-Kids von heute von uns alten Säcken noch etwas einreden ließen.

Interessanter wird es aber, wenn Mayer-Schönberger auf die informationelle Selbstbestimmung zu sprechen kommt. Dabei geht er auf die Forderung von Online-Bürgerrechtlern ein, dass Nutzer sozialer Netzwerke und anderer Online-Dienste ein gesetzlich verbrieftes Recht haben müssten, Informationen über sich löschen zu lassen.

Einer Studie der University of California, Berkley, hat kürzlich ergeben, dass 88 Prozent der 18- bis 22jährigen in den USA ein solches Gesetz befürworten. 62 Prozent wollen die Betreiber solcher Websites zwingen, ihnen auf Wunsch Auskunft über alle persönlichen Informationen zu geben, die über sie gespeichert sind.

Ein anderer Vorschlag, auf den Mayer-Schönberger ausführlich eingeht, wäre es, persönlichen Informationen im Internet eine Art automatisches Verfallsdatum mitzugeben. Nach einer bestimmten Zeit würden diese Daten einfach verschwinden. Zu den Fragen, wie lange eine solche Halbwertzeit denn sein soll und wie sie durchgesetzt werden könnte, äußert er sich nicht.

Es ist auch klar warum: Selbst wenn einzelne nationalen Gesetzgeber eine solche Forderung in geltendes Recht umsetzen würden, wäre damit wenig gewonnen, wenn der Betreiber des Netzwerks in einem anderen Land mit weniger strikten Gesetzen residiert – vor allem in den USA, wo bekanntlich ein etwas anderes Verständnis für Datenschutz herrscht als beispielsweise in der Alten Welt.

Erschwerend kommt hinzu, dass solche restriktiven Ansätze frontal mit einer Geisteshaltung kollidieren, die gerade unter den Anhängern und Betreibern von Sozialen Netzwerken Mode ist, nämlich die Forderung nach totaler Transparenz. Mark Zuckerberg, Gründer von Marktführer Facebook, verteidigt laufend und lautstark die jüngste Entscheidung, die Grundeinstellung („default status“) der Profile seiner Nutzer auf „public“ abzuändern.

Bislang musste man als User ausdrücklich zustimmen, wenn die Daten öffentlich gemacht werden sollten. In einem Interview mit dem Online-Nachrichtendienst „Techcrunch“ sagte Zuckerberg, Facebook sei verpflichtet, die „aktuellen sozialen Normen“ zu reflektieren. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Ist Privatsphäre also ein Auslaufmodell? Werden wir uns mit der Zeit schon daran gewöhnen, nackt herumzulaufen wie der Kaiser im Märchen mit seinen neuen Kleidern? Oder lohnt es sich, für ein Recht auf den Schutz der eigenen digitalen Persönlichkeit zu kämpfen? Das ist eine Entscheidung, die jeder für sich treffen muss. Gesamtgesellschaftlich ist sie aber von großer Tragweite. Schuld und Sühne sind nicht umsonst als Begriffspaar untrennbar miteinander verbunden.

Mayer-Schönberger glaubt daran, dass Vergessen eine wichtige soziale Funktion hat. Sie gibt dem Einzelnen nämlich zumindest die faire Chance, sich zu bessern und die Umwelt davon überzeugen, dass man sich geändert hat. Systeme, die nichts vergessen lassen, erzeugen soziale Stigmata, die wir zeitlebens mit uns herumzutragen gezwungen sind. Das kann nicht einmal der größte Fan von Online-Transparenz ernsthaft wollen.